„Haben ‚die Medien‘ eine Zukunft?“ – Mit dieser provokativen Frage konfrontierte uns gestern Nachmittag Prof. Dr. Nick Couldry. Wohl jedem wird aufgefallen sein, dass Medien heute nicht mehr ganz das sind, was sie vor 20 Jahren waren. Und einige werden vermuten, dass sich die Medien in den nächsten 20 Jahren wiederum radikal verändern. Prof. Couldry geht es dabei in erster Linie um die kulturelle Zukunft der Medien, die ökonomische Perspektive überlässt er anderen.

Medien und ihr gesellschaftlicher Stellenwert stehen vor mannigfaltigen Herausforderungen in technologischer, sozialer und politischer Hinsicht. Am Beispiel des britischen Reality-TVs zeigte Couldry, dass es unbedingt multidimensionaler Ansätze bedarf, um Medienkultur wie auch den Zusammenhang zwischen Medien und Kultur zu verstehen.

Zunächst sollten wir nicht außer Acht lassen, dass Medien als soziale Institutionen in einem historischen Prozess entstanden sind. Ihre (symbolischen) Macht – zu einer und für eine ganze Gesellschaft sprechen – liegt ihnen nicht natürlich inne, sondern ist Folge sozialer Konstruktion in Alltagspraktiken, Ritualen, Denkmustern und sozialem Handeln. Couldry spricht in diesem Zusammenhang vom ‚Mythos der mediatisierten Mitte‘ (‚myth of the mediated centre‘), also der Annahme, dass ‚die Medien‘ einen privilegierten Zugang zum ‚Kern‘ der Gesellschaft bieten, bzw. dass ein solcher Kern als Quelle sozialer Orientierung und gesellschaftlicher Wertevorstellungen überhaupt existiert.

Prof. Couldry merkte an, dass es viele Medien gibt und täglich neue Angebote hinzutreten, an die wir auch nicht zwangsläufig zuerst denken, wenn wir über ‚die Medien‘ sprechen. Die technologischen Möglichkeiten vor allem im Internet bereiten der relativen Knappheit von Medienangeboten ein Ende. In der Folge verlieren ‚die Medien‘ ihren oben beschriebenen Status als Hauptzugangspunkt zur sozialen Welt mehr und mehr. Die Mediennutzung wird stetig individueller, die Nutzungsmuster divergieren immer stärker.

Die Legitimität der Medienmacht, die sich immer auch aus der massenhaften Verbreitung speiste, scheint zu schwinden. Der Nutzen der traditionellen Massenmedien, uns das zu zeigen, was alle sehen – ob nun politische Nachrichten oder Großereignisse – wird zunehmend überlagert von interpersonalen Medien, den so genannten ‚Social Media‘, durch die Menschen ihre eigenen und individuellen Verbindungen zur Außenwelt aufbauen.

Diese Entwicklungen haben politische Konsequenzen, da ‚die Medien‘ als Ort an Bedeutung verlieren, an dem politische Akteure öffentlich in Erscheinung und mit der Öffentlichkeit in Kontakt treten. Der Wahlkampf von Barack Obama – in dem er u.a. ‚Freundschaft‘ mit über einer Million Facebook-Nutzer schloss – kann als Anpassung an die veränderten Bedingungen verstanden werden, ob es als alternativer Weg medialer Kommunikation taugt, muss sich erst noch zeigen.

Zusammenfassend argumentiert Prof. Couldry, dass ‚die Medien‘ keinesfalls verschwinden, sondern die gesellschaftliche Konstruktion verschiebt sich in einer ‚crisis of appearances‘, wie er es nennt. Medien müssen jetzt bereits viel investieren, um das Publikum zu überzeugen, ihnen Aufmerksamkeit zu schenken.

Unter diesen herausfordernden Bedingungen, entwickeln sich ‚kulturelle Supplemente‘, die – wenn ich das richtig verstanden habe – Füllstoffe für die gesellschaftlichen Lücken, die durch das Schwinden der medial vermittelten Mitte und damit der traditionellen Glaubens- und Wertesysteme entstehen.

Als ein solches Supplement beschreibt Couldry Reality TV als Format, das aus ökonomischen Zwängen entstanden ist, jedoch hohe Popularität genießt. Es sichert den Medieninstitutionen ein gewisses Maß an Autorität, die durch das Urteil über die Kandidaten ausgeübt wird. Gleichzeitig wird dem Publikum auch eine stabile Struktur präsentiert, die Komplexität alltäglicher Erfahrung wird auf einfache Spielregeln reduziert. Regel Nr. 1 dabei lautet: Sich permanenter Beobachtung und Beurteilung durch externe Autoritäten auszusetzen ist notwendig, um die persönliche Weiterentwicklung sicherzustellen.

Diese stark verkürzte Darstellung der tiefgründigen Analyse Couldrys kann die vielfältigen Dimensionen nur skizzenhaft anreißen, die er für ein umfassendes Verständnis von Medienkultur als notwendig erachtet. Couldry schlägt vor, Medieninhalte grundsätzlich als Verkörperung viel größerer sozialer, politischer, ökonomischer und kultureller Kräfte zu verstehen, wenn wir darüber nachdenken, welche Kulturen um Medien herum entstehen. Wichtig ist ihm dabei auch die Einsicht, dass im Angesicht der Medienentwicklung Fragen der sozialen Macht und ihrer Legitimität nicht verschwinden, sondern durch den Zuwachs an Akteuren eher umfassender und komplexer werden.

Dr. Nick Couldry ist seit 2006 als Professor für Media and Communications am Goldsmiths College der University of London, wo er Direktor des Centre for the Study of Global Media and Democracy ist. Davor war er von 2001 bis 2006 an der London School of Economics als Dozent tätig. Seine Forschungsinteressen umfassen: Media Rituals and Anthropological Approaches to Media, Reality TV, Celebrity and Fandom, Media and Democracy, Alternative and Community Media, Media Ethics, the Intersection between Media and Surveillance, Social and Cultural Theory, the Methodology and History of Cultural Studies.

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Do „the Media“ have a Future? – Gedanken zum Gastvortrag von Prof. Dr. Nick Couldry

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