von Lorenz Grünewald

Sind Multi-Channel-Networks die neuen Sender?

Im neuen Digitalisierungsbericht der Medienanstalten schreibt der Medienwissenschaftler und Blogger Bertram Gugel, dass wir bei der Beobachtung der MCNs „momentan die Wiederholung der Geschichte des Fernsehens“ erleben[http://goo.gl/zQOqMz]. Der Titel seines Artikels „Sind YouTube-Netzwerke die neuen Sender?“ und der dazugehörende Diskurs um Multi-Channel-Networks sind Ausdruck eines alten Verständnisses von Medien und Mediennutzung, das noch aus dem Zeitalter der Massenmedien stammt und das den demokratischen Möglichkeiten neuer digitaler Medien wie YouTube nicht mehr gerecht wird. Ein solches Verständnis und insbesondere die Selbstverständnisse der Multi Channel Networks (MCNs) verdecken das demokratisierende Potential eines Mediums, in dem jeder mit einer Kamera und einem Internetanschluss frei Nachrichten und Unterhaltung produzieren kann. MCNs sind Unternehmen, die YouTuber unter Vertrag nehmen, ihre Kanäle vernetzen und deren Werbepotential maximieren. Das größte deutsche MCN Mediakraft präsentiert auf seiner Website den Slogan „Wir machen Online-TV“. Dies verweist auf eine Rollenverteilung, die wir aus dem Fernsehen kennen: Die asymmetrische Beziehung zwischen TV-Machern und Zuschauern, zwischen Sender und Empfänger[http://goo.gl/ajOctJ]. Tatsächlich lässt sich Mediakraft-Chef Christoph Krachten im neuen Wired Germany damit zitieren, dass Mediakraft die Möglichkeit habe, “größer als große Fernsehanstalten zu werden”[http://goo.gl/9WzrRH]. Der aktuelle Diskurs um YouTube konzentriert sich dabei vor allem auf den Konflikt zwischen MCNs und größeren YouTubern, die sich in den Optimierungsprozessen und der Formatentwicklung der MCNs in ihrer künstlerischen Freiheit beeinflusst sehen. So sagte es kürzlich der YouTuber LeFloyd zu Stefan Niggemeier[http://goo.gl/no4m1N]. Die Diskussion um YouTube muss jedoch weiter gehen, denn die Selbstverständnisse im YouTube Ökosystem und das Sender/Empfänger-Modell deuten ein tiefer liegendes Problem an.

Broadcast Yourself: Strategisch genial, kulturell unerreicht.

Auch YouTubes Selbstverständnis ist im Wandel. Im November 2014 kündigte das Unternehmen den neuen Streaming-Dienst YouTube Music Key an. Natürlich per Video. Das Video zeigt die Evolution YouTubes anhand der Menschen, die dort etwas mit Musik gemacht haben. Es beginnt mit ‚Two Chinese Boys‘, die bereits kurz nach YouTubes Start im Februar 2005 die Backstreet Boys coverten und endet etwa mit Pharrell Williams Hit-Single‘ Happy‘ aus 2014. Das zeigt die Geschichte vom User-Generated-Content, also den Inhalten derer, von denen einige zu YouTubern wurden bis hin zum Einzug der Profis, der Stars und der Netzwerke. Aber – und das ist für YouTubes Selbstverständnis bezeichnend – das Video zeigt auch, wie im Wandel der YouTube Website der Slogan ‚Broadcast Yourself‘ verschwindet[http://goo.gl/rSwVv5, ca. bei 00:44]. Stattdessen nennt YouTube auf seiner Google+-Seite ein Motto, das nicht empowert, sondern ebenfalls auf passive Empfänger verweist: „Bringing you the best of YouTube videos and channels, worldwide.“[http://goo.gl/S0q57E]. Dass der Slogan von der Startseite verschwindet ist deshalb so verwunderlich, weil er das Medium YouTube, so wie es jetzt ist, erst möglich gemacht hat. ‘Broadcast Yourself’ ist die perfekte Repräsentation, ja sogar der perfekte Imperativ dafür, dass wirklich jeder, der über einen Internetanschluss und eine Kamera verfügt, seine Botschaft verbreiten kann. YouTube hatte anfangs nur das Selbstverständnis, diejenigen zu empowern, die vor der Röhre sitzen: YouTube. Broadcast Yourself. Konkretere Ziele, so lässt es ein Portrait der ersten Generation von YouTubern aus Wired UK vermuten, hatte YouTube in der Start-up-Phase überhaupt nicht [http://goo.gl/hKU00G]. So konnten neue Ideen davon entstehen, was es heißt, ein Künstler zu sein, ein Journalist, ein Entertainer, ein Aktivist. Die Rolle des YouTubers entstand und einige von ihnen wurden Stars wie in Deutschland LeFloyd oder Gronkh. Diese informieren und unterhalten und ihre Videos werden oft öfter gesehen als eine durchschnittliche Folge von TV Total. ‚Broadcast Yourself‘ ist ein strategisch genialer Gedanke, der die Diversität von Leuten, die ein Medium nutzen können ins bisher Ungesehene gesteigert hat. Die Zahl und die Unterschiedlichkeit derer, die auf YouTube aktiv sind, reicht vom Briefmarkensammler über religiöse Prediger, von Unternehmenskommunikation zu Barack Obama und weit darüber hinaus. Mit Vine, einer Art Twitter für Videos von sechs Sekunden, tauchte ein weiterer Stern am Video-Himmel auf. Hier konstatiert The New Yorker: “Vine didn’t really take off until April, 2013, when it introduced a front-facing camera for selfies: it turned out that people would rather broadcast themselves than their surroundings.”[http://goo.gl/dzFjIy]

Das Problem steckt schon im Begriff des Senders

Das Verständnis von Netzwerken als Sender und von YouTube als etwas wie dem Fernsehen vergleichbaren, verweist damit auf eine grundsätzlichere Veränderung im YouTube-Ökosystem. Denn mit dem Twist zurück zu TV-inspirierten Selbstverständnissen wird auch ein altes Verständnis der YouTube-Nutzer impliziert, das gegen vieles spricht, was wir aus den Medienwissenschaften über Netzwerkmedien wie YouTube wissen. ‚Broadcast Yourself‘ hat nicht nur dazu geführt, dass eine bisher unbekannte Diversität von Leuten und Akteuren auf YouTube zum Sender wurde. Die Teilung von Sender und Empfänger wird bei Medien wie YouTube heute aufgelöst. Jeder, der Videos sehen kann, kann diese auch kommentieren, bewerten, teilen, Playlisten erstellen oder eben ein eigenes Video hochladen. „Passives Konsumieren wird zur aktiven Entscheidung“, wie die Huffington Post es kürzlich zu YouTube formuliert hat[http://goo.gl/33X5BH]. So entsteht eine reiche Kultur, in der sich YouTuber gegenseitig referenzieren, beurteilen, parodieren, covern, und verreißen. Es entsteht aber auch eine Kultur, in der Gesellschaft stattfindet. Das reicht von Interviews mit Flüchtlingen in Deutschland, die über ihre Lage berichten bis hin zu Aufnahmen von Polizeigewalt oder schlimmerer Dinge, wie dem Suizid von Mohamed Bouazizi, dessen Verbreitung auf YouTube und Facebook nach Meinung vieler ein Auslöser für die tunesische Revolution waren. Muss es nun ein Problem sein, dass sich Netzwerke als Sender für ihre mehr oder weniger passiven Empfänger betrachten und dass YouTube sein Selbstverständnis hin zum neuen Fernseher entwickeln könnte? Nicht, solange weiterhin jeder über ähnliche Möglichkeiten verfügt, auf YouTube aktiv zu werden. Derzeit ist dies auch weiterhin der Fall. Die Entwicklung von YouTubes Geschäftsmodell, das auch die MCNs ermöglichte, zeigt aber, dass sich dies auch ändern kann.

Verschiebt sich die Balance im Ökosystem?

Die enorme Diversität an Menschen und Organisationen, die YouTube nutzen, liegt darin begründet, dass YouTube, wie die meisten Internet-Start-ups, ohne ein Geschäftsmodell startete. Auch Google tat sich nach der Akquise von YouTube zunächst schwer, ein Geschäftsmodell zu entwickeln. Mit dem Partner-Programm, das es einzelnen YouTubern erlaubt, ihre Videos mit Werbung zu versehen und an den Einnahmen mit zu verdienen, glaubte man, eine Erlösmöglichkeit gefunden zu haben, die den Zugang zu den Potentialen von YouTube nicht einschränkte. Niemand musste für seinen Broadcast Geld verlangen; aber wer wollte, der konnte. Um den Effekt des neuen Geschäftsmodells zu maximieren, begann man Deals mit neuen Partnern wie Medienkonzernen einzugehen sowie Lizenzen an MCNs zu vergeben. Hierdurch rücken Unternehmen näher an YouTube heran, als das für einzelne Nutzer möglich ist. Zum Beispiel durch erweiterte Zugänge zu YouTubes Verwaltungs-System für Urheberrechte, genannt Content-ID, aber auch durch durch besondere Analytics-Systeme und erweiterten Support. Auch durch ihr Wissen, ihr Kapital und das Einbinden der Reichweite von YouTube-Stars haben beispielsweise MCNs einen größeren Spielraum im Umgang mit YouTube als andere. Natürlich haben sie es auch leichter, auf die Startseite zu kommen.

Nicht nur in den Selbstverständnissen von MCNs und von YouTube zeichnet sich also ab, dass neue Quellen von Ungleichheit im Bezug darauf entstehen können, wer etwas mit Medien machen kann. Noch ist es nicht so weit. Aber es ist nicht absehbar, was mit ‘Broadcast Yourself’ passieren wird, falls YouTube als Unternehmen ernsthaft beginnen sollte, sein Empowerment hin zu den Profitmaximierenden zu verschieben. Andere Unternehmen wie Yahoo, die einigen Meldungen zufolge einen eigenen Videodienst planen, für den sie erfolgreiche YouTube-Stars abwerben wollen, oder Video-Start-ups wie getvictorious.com oder vessel.com, die sich explizit an YouTuber mit bestehender Reichweite richten, planen scheinbar zunächst gar keine Upload-Funktion für den gewöhnlichen Nutzer ein. Damit gehen sie weit hinter das zurück, was YouTube schon erreicht hat[http://goo.gl/iuAO4F].

Wer Fernsehen denkt, geht hinter bereits Erlangtes zurück

Wer, wann, wie Unterhaltung und auch Geschäftsmodelle schaffen kann und wer mit ihnen wahrgenommen werden kann oder wer mit YouTube politische Diskurse schaffen und beeinflussen kann, das darf nicht zu sehr von Werbetauglichkeit und/oder dritten Institutionen wie MCNs abhängig sein. Ganz zu schweigen von den unzähligen Videos, die auf YouTube stattfinden aber nicht monetarisiert werden können, weil sie als Remixe, Übersetzungen oder Mash-ups Urheberrechtsansprüche verletzen würden.

Vieles deutet darauf hin, dass YouTube sich um Balance bemüht. Zum Beispiel experimentiert YouTube mit einem System, das einfaches Verteilen kleinerer Geldbeiträge an die Produzenten von YouTube Content ermöglicht, ohne dass MCNs oder Werbetreibende ins Spiel kommen müssen[http://goo.gl/vVukqg]. Aber falls YouTube doch zum neuen Online-TV wird, was passiert dann mit denen, die einfach nur ‚Broadcast Yourself‘ machen wollen? Muss sich der Diskurs nicht auch um uns alle, um das You im YouTube kümmern als nur um MCNs und YouTuber? Um die Leute, die mit Rollen, Formaten und Inhalten experimentieren? Dass es zu alten Selbstverständnissen besser nicht kommen sollte sagt auch Betram Gugel: “Es ist für Netzwerke also essentiell, dass sich YouTube auch in Zukunft als Enabler und nicht als Medienunternehmen sieht.” Der letzte Satz aber, den YouTube in seinem Music Key Video zeigt, lautet: „From the beginning you have been making music better. Now it’s our turn”.

Dieser Artikel ist zuerst erschienen in: Der Digitale Wandel 04/14,  CC-BY-NC-SA-4.0

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Broadcast whom? Die neuen alten Selbstverständnisse im YouTube Ökosystem

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