Carsten Winter hat in der Begrüßung in diesem Blog dargestellt, wie Medien heute zur aktiven Gestaltung von Beziehungen, wie auch von Inhalten und Vergemeinschaftungs-prozessen und so unserer Welt genutzt sowie aktiv entwickelt werden. Das Mobiltelefon als digitales Netzwerkmedium ist ein Paradebeispiel für diese Prozesse.
Gleichzeitig verändert die Entwicklung von neuen Medien aber auch das Bild einer Gesellschaft im Ausland. Eines der eindrücklichsten Beispiele dieser Transformationsprozesse ist sicherlich Finnland, der nördlichste Staat der Europäischen Union, lange Zeit schwedische Territorium, später in den Händen des russischen Zaren, zu Zeiten des Kalten Krieges neutraler Vermittler mit enger Bindung an Westen und Sowjetunion zugleich. Vor 20 Jahren verband man das Land noch mit unberührter Natur, dünner Besiedelung und — wirtschaftlich gesehen — dem Holzexport. Betrachte ich den Bildband vor mir, veröffentlicht im Jahre 1987, dann geht es dort um Ruhe in der Natur, Entspannung in der Sauna, Entschleunigung und spiegeln sich dieses Motive in beinahe allen Fotografien (Dressler, Winkler & Schneider, 1987).
Insbesondere Japaner sind auch heute noch von dem Kontrast der „Nordlichter“ zur Enge, Hektik und Triebsamkeit Tokios begeistert – deshalb gibt es Direktflüge von Tokio nach Helsinki, deshalb werden japanische Filme und Werbespots in Finnland gedreht und deshalb besuchen immer mehr Japaner auf ihren Europa-Ausflügen auch dieses Land. Was viele Touristen jedoch nicht wissen: In der Nutzung von neuen Kommunikationstechniken stehen die Finnen den Japanern in Nichts nach.
Denn mit dem Aufstieg des TIME-Unternehmens NOKIA zum weltweit größten Mobiltelefonhersteller vor 10 Jahren ist eine neuer Baustein in das klassische Finnland-Bild eingesetzt worden, der vielen Betrachtern irgendwie nicht recht zu passen scheint. Es ist sicherlich nicht nur dem Telekommunikations- und Medienkonzern aus der Helsinki Metropolitan Area zuzurechnen, dass die Finnen heute eines der aktivsten, wenn nicht sogar das aktivste Volk am Mobiltelefon sind. Aber einen wichtigen Beitrag hat dieser dann doch bei der Entwicklung des digitalen Netzwerkmediums geleistet: Vom „Eldorado der Mobilkommunikation“ sprechen daher auch Höflich, Gebhardt & Steuber (2003, S. 268). Folglich braucht NOKIA in Finnland keine Werbekampagnen — die Markenbekanntheit liegt schon in Deutschland bei 97 Prozent in der Zielgruppe der 14- bis 64-Jährigen.
„Matkapuhelin“ oder einfach „Puhelin“ (Telefon) steht im Finnischen für Mobiltelefon (wörtlich: unterwegs sprechen) — die sprachliche Differenzierung ist dabei beinahe unnötig geworden, da laut einer aktuellen Studie der BITKOM bereits 61 Prozent der Finnen ihren Festnetzanschluss durch das Handy ersetzt haben. Das ist auch der Grund, warum ich hier meine Waschmaschine per Telefonanruf bezahle, weshalb mir mein Internetprovider die Einwahldaten per SMS sendet und der Ausleihreminder in der lokalen Bibliothek nicht per E-Mail, sondern — natürlich — als SMS auf mein Mobiltelefon kommt. Deshalb kann ich hier auch in jedem Kiosk Prepaid-Tarife zu Spottpreisen kaufen und bin im abgelegensten Teil Lapplands mobil erreichbar. Ahonen und Moore (2005) beschreiben in „Communities Dominate Brands„, wie finnische Großeltern mit ihren Enkeln die SMS, ganz normal, zur Kommunikation nutzen (S. 249). Das ist Alltag in Finnland.
Dies ist jedoch nur die eine Seite der Medaille, diejenige, die der aufmerksame Besucher nicht übersehen kann. Das Mobiltelefon hat in Finnland aber noch eine ganz neue Seite eröffnet: Denn das mobile Gespräch und insbesondere die SMS sind für die Finnen auch neue „unverbindliche“ Kommunikationsmöglichkeiten geworden. Sicher kann man nicht verallgemeinern, dass der durchschnittliche Finne eher scheu und verschlossener ist, persönliche Gespräche mit ihm schwieriger zu führen sind. Doch selbst Mika Ojamies, Head of Communications bei YLE (Finnlands öffentlich-rechtlichem Rundfunk), sagte mir im Gespräch, dass Finnen scheinbar nur an ihrem Mobiltelefon wirklich „talkative“ sind (vgl. auch Hámos & Sohlo, 2008, S. 165). In öffentlichen Verkehrsmitteln herrscht meist allgemeine Ruhe, Fahrgäste unterhalten sich, auch wenn sie sich kennen, nur selten. Diese Ruhe wird nur gebrochen, wenn einer der Reisenden plötzlich zum Telefon greift — dann findet das meist in ganz neuer Freude, Überschwänglichkeit und Lautstärke statt. Eine Werbekampagne in öffentlichen Verkehrsmitteln soll die Finnen neuerdings „umerziehen“, doch bitte leiser zu telefonieren. Vielleicht ist es die klassische Bindung an eine kleine, lokale Community (die sich z. B. im regen Bezug lokaler Tageszeitungen spiegelt), die die Finnen so stark an ihre telefonischen Gesprächspartner fesselt, vielleicht ist es tatsächlich die Scheu vor dem „face-to-face“ Gespräch. Fest steht: Mit der SMS als Kommunikationsinstrument lässt sich die — hypothetische — Verschlossenheit auf neuen Wegen überwinden, kann das Wesentliche in 160 Zeichen gesagt werden. Vielleicht ist es auch deshalb kein Wunder, dass die SMS seit ihrer Entstehung in Finnland erfolgreich ist, in Deutschland und den USA jedoch erst viel später entdeckt wurde.
Nicht erstaunt bin ich bei alldem, dass eine der ersten Fragen, die ich in meinem finnischen Sprachkurs lerne, „Mikä sinun puhelinnumero on?“ ist — „Wie lautet deine Handynummer?“.
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Christopher Buschow studiert derzeit in einem Auslandssemester an der Metropolia Ammattikorkeakoulu in Helsinki, Finnland.
Ahonen, T. T. & Moore, A. (2005). Communities Dominate Brands. London: Futuretext.
Dressler, F., Winkler, E. & Schneider, O. M. (1987). Finnland. München/Luzern: C. J. Bucher.
Hámos, I. & Sohlo, I. (2008). Kulturschock Finnland. Bielefeld: Reise Know-How.
Höflich, J.R., Gebhardt, J. & Steuber, S. (2003). SMS im Medienalltag Jugendlicher. Ergebnisse einer qualitativen Studie. In J. R. Höflich & J. Gebhardt (Hrsg.), Vermittlungskulturen im Wandel (S. 265-290). Frankfurt a.M.: Peter Lang.
Und genau von diesen Beiträgen fängt der Blog an interessant zu werden.