Li, C. & Bernoff, J. (2008). Groundswell – winning in a world transformed by social technologies. Boston: Harvard Business School.

Es existieren inzwischen eine ganze Reihe Veröffentlichungen zu Web2.0 & Social Software und jeden Monat kommen mehr hinzu. Zumeist versuchen die Autoren, aktuelle Phänomene zu kategorisieren und gut klingende Namen zu finden, vielleicht in der Hoffnung, dass diese eine ähnliche Karriere machen wie der Begriff des „Web2.0“. Im Nebeneinander der Definitionen und Zuordnungen steigt kaum ein Kommunikationswissenschaftler durch; Praktiker, die konkrete Lösungen entwickeln müssen, bringen solche Deskriptionen vermutlich kaum voran.

Viel zu selten gelingt es in der Literatur, das, was sich momentan im Internet entfaltet, so treffend zu beschreiben, in seiner Wirkung zu analysieren und in seinem Potenzial greifbar zu machen, wie es die beiden amerikanischen Forrester Strategen Charlene Li und Josh Bernoff in ihrem Buch „Groundswell – winning in a world transformed by social technologies“ von 2008 leisten. Auf rund 250 Seiten finden sie die richtigen Worte, bleiben nicht bei unbefriedigenden Beschreibungen stehen, sondern tauchen mit dem Leser ein in den Groundswell, diese kreative Grundsee im Web2.0, um ihm mit Hilfe ihrer Erfahrung als Berater eine handfeste Gebrauchsanweisung zu geben mit Hinweisen zu allen Risiken und Nebenwirkungen – aber mit ebenso viel Hoffnung, die Chance zu erkennen und den Schritt zu wagen, sich von dieser Bewegung mitreißen zu lassen.

Und so, wie sie an gute Onlinestrategien den Anspruch stellen, dass die Menschen im Mittelpunkt stehen, so haben sie auch ihr Buch verfasst – „with real stories of the people who make the groundswell such an amazing place, to provide a little insight into the psychology behind what’s happening“ (Li & Bernoff, 2008, S. XI).

Den Groundswell lieben lernen, …

Das Buch unterteilt sich in drei Abschnitte. Zunächst umreißen Li und Bernoff ihre Idee des Groundswell als „social trend in which people use technologies to get things they need from each other, rather than from traditional institutions like corporations“ (S.9). Sie stellen fest: Der Groundswell hat die Machtverhältnisse grundlegend verändert. Ursächlich sei das Zusammentreffen dreier Kräfte: Der Menschen mit ihrem Bedürfnis, sich zu verbinden, der Technologie in Form des Web2.0 und der Online-Ökonomie, in der Traffic gleichbedeutend mit Geld wird. Diese Entwicklung schafft unglaubliche Herausforderung für Unternehmensstrategen.

Dabei möchten Li und Bernoff den Lesern die Augen öffnen, dass dieser „Groundswell“ nichts Negatives ist, vor dem man sich fürchten und schützen muss. Wie jede andere menschliche Aktivität kann man mit dieser Kraft arbeiten und sie nutzen – wenn man sie verstanden hat. Also erklären sie klar und nachvollziehbar die Wirkungsweise und den Nutzen von Web2.0-Tools und geben sie den Lesern als Werkzeuge an die Hand.

Doch Li und Bernoff sind sich im Klaren, dass es nicht genügt, die einzelnen Technologien zu verstehen, denn Technologien wandeln sich sehr schnell. Außerdem geht es nicht um die einzelnen Technologien, sondern um die wirkenden Kräfte, die man verstehen und für die man ein Gefühl entwickeln muss. Deshalb ist das Credo des Buches: Konzentration auf die Beziehungen, nicht auf die Technologien. Die Leser sollen erkennen, wie und wo Menschen angesprochen werden können. Dazu haben die Autoren das Social Technographics Profile® entwickelt; ein Tool, das es ermöglicht, dem Anspruch an eine Konzentration auf die Beziehungen gerecht zu werden, indem es zeigt, wie Menschen bereits Beziehungen im Internet knüpfen, wie involviert sie im Web2.0 bereits sind und wie man sie also am besten erreicht (vgl. S. 41).

… stufenweise das Internet erobern…

Im zweiten und strategisch besonders zentralen Teil des Buches stellen die Autoren ihre fünf Stufen einer erfolgreichen Internetstrategie dar. Diese bauen nicht operativ aufeinander auf, übertreffen sich jedoch jedes Mal in der notwendigen Bereitschaft, sich auf diese neue Kraft einzulassen, sowie dem notwendigen Involvement der Nutzer.

Zur Entwicklung einer erfolgreichen Strategie auf einer dieser Stufen haben Li und Bernoff die POST-Methode entwickelt (vgl. S. 67), die die vier entscheidenden Fragen stellt:

  • People: wofür sind meine Kunden bereit?
  • Objectives: Was sind meine Ziele?
  • Strategy: Wie soll sich die Beziehung zu den Kunden ändern?
  • Technology: Was für Applikationen sollte ich einsetzen? (Als letztes zu entscheiden!)

Je nach Entwicklungsstand können Unternehmen eins der fünf Ziele im Groundswell wählen, für das auch jeweils der Einsatz eines bestimmten Werkzeuges aus dem ersten Teil des Buches empfohlen wird.

Listening (vgl. S.77-98): Die Nutzung des Groundswells für Forschung und um die Kunden besser verstehen zu lernen. Dieses Ziel ist laut Li und Bernoff am besten geeignet für Unternehmen, die Kunden-Insights suchen, um sie in Marketing und Entwicklung zu nutzen, und ist damit als Alternative für teuren Research einzusetzen. Denn im Groundswell ist es möglich, die Zielgruppe in ihrer „natürlichen Umgebung“ im Umgang mit dem eigenen Unternehmen, den Wettbewerbern und miteinander im Alltag zu beobachten.

Talking ist die zweite Stufe (vgl. S. 99-128): Die Nutzung des Groundswells, um über das Unternehmen Botschaften zu verbreiten. Es ist ein geeignetes Ziel, wenn man bereit ist, momentane digitale Marketing-Initiativen (Banner-Werbung, Such-Werbung, Email) auf einen interaktiveren Kanal auszudehnen, und stellt somit eine Alternative für Marketing dar.

Energizing bezeichnet die dritte Stufe (vgl. S. 129-152): Hier empfehlen die Autoren, die enthusiastischsten Kunden zu finden und mit Hilfe des Groundswells das Potential von Mundpropaganda voll auszunutzen. Das mache am meisten für Unternehmen Sinn, die wissen, dass sie Markenenthustiasten haben, denen sie Antrieb geben können. Word of Mouth ist eine Alternative zum Verkauf und außergewöhnlich erfolgreich, weil es glaubwürdig, selbstverstärkend und selbstverbreitend ist.

Als vorletzte und vierte Stufe nennen Li und Bernoff das Supporting (vgl. S. 153-178): Hier sollen Groundswell-Tools eingesetzt werden, um den Kunden zu helfen, sich gegenseitig zu unterstützen. Das ist wirksam für Unternehmen mit signifikanten Supportkosten und Kunden, die eine natürliche Affinität für einander haben. Diese Stufe stellt eine effektive und kostengünstige Alternative für Kundensupport dar.

Die höchste Stufe und damit „Königsdisziplin“ im Groundswell ist das Embracing (vgl. S. 179-196): Die Integration der Kunden in die Art, wie das Unternehmen funktioniert, einschließlich ihre Hilfe zu nutzen, um die eigenen Produkte zu entwickeln. Dies ist die größte Herausforderung unter den fünf Zielen und am besten geeignet für Unternehmen, die bereits erfolgreich waren mit einem der vier anderen Ziele. Embracing ist eine Alternative für traditionelle Entwicklung, indem Kunden zu einem integralen Bestandteil gemacht werden, wie man Innovationen schafft, sowohl bei den Produkt- als auch Prozessverbesserungen, was auch schneller zu Innovationen führt und langfristig Wachstum sichert.

Auch diese fünf Stufen illustrieren Li und Bernoff wieder mit treffenden Praxisbeispielen – und indem sie Fehlentscheidungen und Misserfolge ihrer Kunden aufzeigen, geben sie die Möglichkeit, aus den Fehlern anderer zu lernen.

… und sich in der Realität behaupten können.

Doch Charlene Li und Josh Bernoff haben bereits genug Erfahrungen in ihrem Job als Strategieberater gemacht, um zu wissen, dass die Herausforderungen nicht nur im Internet und in der Beziehung zu den Kunden warten. Durch die Implementierung einer dieser Onlinestrategien verändert sich grundlegend die Art, wie das Unternehmen mit seinen Kunden in Beziehung tritt – und diese äußeren Veränderungen bringen unweigerlich innere mit sich. Im dritten Teil des Buches bereiten die Autoren deshalb auf die neue Unternehmensrealität vor; mit was für Hürden und Umbrüchen gerechnet werden muss, wie Mitarbeiter in die Strategie integriert und Vorgesetzte überzeugt werden können, kurzum, sie geben Hilfestellungen, wie die Onlinestrategie tatsächlich verfolgt und ihr Erfolg messbar gemacht werden kann.

Schließlich entwerfen die beiden Autoren ihre persönliche Vision eines zukünftigen Arbeitsalltags im und mit dem Groundswell, um mit der Einladung aller interessierten Leser zu einer Beteiligung am Groundswell-Gespräch unter groundswell.forrester.com zu enden.

Fazit

Im Laufe des vergangenen Jahres haben wir uns für ein großes Forschungsprojekt ausführlich mit Literatur zum Internet, insbesondere strategischer Art, auseinandergesetzt. Und ich muss und kann sagen, dass kein einziges Buch uns auf unserer Reise einer eigenen, empirisch fundierten Medienentwicklung für einen realen Auftraggeber mehr geholfen hat als der Groundswell. Es liest sich angenehm einfach und anschaulich, bietet gute Verfahren und handhabbare Strukturierungen, die konsequent angewandt werden, und findet kreative und anschauliche Bilder und Bezeichnungen. Gerade durch die Vielfalt an Anektdoten aus dem Beraterjob der beiden Autoren liest sich der Groundswell als spannende und einprägsame Reise.

Doch am Ende des Tages ist es die außergewöhnliche Kombination von definitorischer Klarheit, strategischer Brillanz und handwerklicher Bodenständigkeit, die den Groundswell zur Pflichtlektüre für Medienentwicklung und Internetstrategie machen.

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Buchrezension: Groundswell (Li/Bernoff)
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